Warum Vorlesen auch Eltern glücklich macht
„Kannst du auch so wütend sein wie der Kleine König?“ - frage ich, nachdem ich die ersten Seiten meiner Geschichte in der Kita vorgelesen habe.
„Ja, ich knalle dann ganz laut mit der Tür… einmal sogar eine Glastür!“ antwortet Felix.
„Wow!“ Ein leiser Hauch von Bewunderung scheint durch die Gruppe zu wehen.
„Da warst du richtig stinke-wütend - so wie der Kleine König, der auch mit den Türen ‚rumps!‘ macht.“, sage ich.
„Ja, aber das war gefährlich!“, fügt er schnell hinzu.
„Was kannst du denn machen, wenn du wütend bist, was nicht so gefährlich ist?“ frage ich die anderen.
„Ich setze mich dann einfach so hin“ - sagt Marie, während sie die Arme vor der Brust verschränkt und einen grimmigen Blick aufsetzt.
Wenn ich als Autorin und Lesepädagogin unterwegs bin, wird mir immer wieder klar, wie bezaubernd und wie bereichernd es sein kann, gemeinsam mit Kindern Geschichten zu lesen.
39 % aller Kinder erhalten zu Hause von ihren Eltern keine oder nur selten Impulse durch Vorlesen und Erzählen.
Die Hälfte der Eltern, die nicht oder nur selten vorlesen, wollen es eigentlich häufiger tun, aber aus vielerlei Gründen wird nichts daraus - und so bleibt es eine wichtige Aufgabe von Kita und Schule, die sprachliche, emotionale und soziale Entwicklung des Kindes durch Vorlesen zu fördern. Dies belegen die Vorlesestudien der Stiftung Lesen aus den letzten Jahren.
Aber nicht nur die Kinder verpassen diese Bildungschance im Elternhaus - sondern ebenso wie ihren Kindern entgeht den Eltern eine andere wertvolle Chance, nämlich eine Bindungs-Chance. Denn auch für Mütter und Väter hat das Vorlesen eine wichtige Funktion: Als tägliches Ritual wird es zu einer wertvollen pädagogischen Methode, um die Beziehung zu ihren kleinen Kindern nachhaltig zu stärken. Schon eine kleine Geschichte kann helfen, um nach einem langen Arbeitstag gedanken- und gefühlsmäßig beim Kind wieder „anzudocken“. Nicht verwunderlich also, dass berufstätige Mütter häufiger vorlesen als „Vollzeit-Mütter“. Oft muss das Vorlesen im Alltag einer workingmom einfach als Punkt auf der umfangreichen ToDo-Liste „abgehakt“ werden. Vergessen wird dabei, die Vorlesezeit als einen wichtigen Moment für die Mutter-Kind-Bindung selbst zu „genießen“.
Ich weiß, Vorlesen ist nicht gleich Vorlesen.
Wenn du müde von der Arbeit kommst und beim Vorlesen der Gute-Nacht-Geschichte neben deinem Kind selbst einschläfst - auch gut! Kuschelzeit für dich und dein Kind. Aber Vorlesen ist nicht nur was für Schlafmützen - im Gegenteil!
Vorlese-Geschichten sind Türöffner für ein kleines Gespräch
Wenn du aber die Vorlese-Zeit nutzen willst, um zu erfahren, was dein Kind so denkt und fühlt, was es erlebt hat - dann ist eine Geschichte ein guter Türöffner für ein kleines Gespräch, das euch an diesem Tag, in dieser halben oder Viertelstunde einander näher bringt.
Und ist es nicht genau dieser gute Zugang zu den Gefühlen und Gedanken deines Kindes, den du als Mutter haben willst? Denn dann fühlst du dich in der Beziehung zu deinem Kind gestärkt. Du erfährst, was mit deinem Kind gerade los ist. Du weißt, wie es deinem Kind geht - das gibt dir Sicherheit.
Mit dieser empathischen Vorlesemethode kannst du die Bindung zu deinem Kind „spielerisch“ stärken und auf Dauer eine gute Mutter-Kind-Beziehung aufbauen.
Deshalb verrate ich dir hier die besten Tipps zum Gefühle.Lesen.Lernen.
Vorlesen mit Gefühl - die besten Tipps
# Tipp 1 Umgebung schaffen
Mache aus dem Vorlesen ein unvergessliches Familien-Ritual - gestalte die Vorlese-Situation - mache es dir mit deinem Kind so richtig gemütlich.
- Richtet euch eine ganz besondere „Schmöker“-Ecke ein - wo ihr gemeinsam in Geschichten eintauchen könnt: das kann das Sofa, das Bett sein oder eine Lese-Höhle (das geht mit ein paar Kissen und Decken auch unter dem Tisch oder in einem kleinen Zelt) oder baut euch ein Lese-Schiff - macht das Baumhaus im Sommer zum Bücher-Turm…
- Schaffe einen übersichtlichen Ort für die Aufbewahrung der Kinder-Bücher, sei es ein offenes Regal, ein Bücherkoffer oder eine Bücherkiste.
- Frage nicht nur dein Kind nach seiner Lieblingsgeschichte, sondern zeige ihm auch, welches deine Favoriten sind und warum.
- Stelle ihm die Helden deiner Kindheit vor.
# Tipp 2 Empathisch Vorlesen - wie geht das?
- Folge beim Vorlesen des Kinderbuches nicht nur dem sachlichen Inhalt, sondern achte darauf, welche Gefühle von den Figuren der Geschichte durchlebt werden. Damit hilfst du deinem Kind, über Gefühle zu sprechen und seine Gedanken auszudrücken.
- Sprecht darüber, was in Bildern ausgedrückt ist: z.B. „Oh, der Bär schaut aber traurig aus“. Benenne die Gefühle der Figuren.
- Versuche auch „zwischen den Zeilen“ zu lesen - Hilf deinem Kind durch gezielte Fragen, sich in die Gefühle der Figuren hinein zu versetzen. „Jetzt ist der Hund bestimmt wütend, oder was meinst du? Was glaubst du, wie geht es dem Jungen jetzt?“
- Unterstütze den Spannungsverlauf der Geschichte durch vorausdeutende Fragen, bevor du weiter liest: Was meinst du, wie die Geschichte jetzt weiter geht oder wie sie endet: „Was wird der Bär jetzt tun?“
- Stelle Fragen, die deinem Kind helfen, an seiner Alltagssituation anzuknüpfen, z.B.: „Ist es dir auch schon einmal so ergangen wie dem Bär in der Geschichte?“
# Tipp 3 Dialog fördern
Wenn das Vorlesen nicht unbedingt als Einschlaf-Ritual gedacht ist:
- Stelle Fragen, die deinem Kind helfen, an seiner Alltagssituation anzuknüpfen, z.B.: „Ist es dir auch schon einmal so ergangen wie dem Bär in der Geschichte?“
- Sprecht nach dem Vorlesen noch über die Geschichte. Was hat dir am besten gefallen? Welche Figur möchtest du am liebsten sein? Welche Figur möchtest du gar nicht sein?
- oder mach mit älteren Kindern ein kleines Ratespiel:Was glaubst du, hat mir am besten gefallen?Was glaubst du, hat mir gar nicht gefallen? Was denkst du: Welche Figur möchte ich am liebsten sein, welche nicht? Warum ist das so? So kommt ihr in einen guten Gedanken-Austausch und du lernst dein Kind besser kennen.
- Spielt einzelne Szenen oder die ganze Geschichte nach: z.B. „Ich wär der Bär und du der Junge!“ - Ein Rollenspiel fördert die emotionale Intelligenz und stärkt das Sozialverhalten, weil dein Kind sich dabei noch tiefer in die Figur hinein denken und einfühlen kann.Vielleicht entsteht dabei sogar eine kleine Theateraufführung für den Rest der Familie.
- Malt zu der vorgelesenen Geschichte ein Bild, jeder frei nach seiner Facon oder vielleicht kannst du auch Ausmalvorlagen erstellen. (Umrisse der Figuren einfach durchpausen). Auch „nur“ Ausmalen wirkt sehr meditativ - fördert die Konzentration.
Und was mache ich, wenn ich zum 127. Mal das geliebte kleine Baggerbuch „vorlesen“ soll - und darauf einfach keinen Bock mehr habe?
Eine Frage, die du dir vielleicht schon die ganze Zeit stellst - hier noch zwei kleine Tipps dazu:
- Mache Vorlesen zu einem gemeinsamen Aufmerksamkeits-Spiel: Wer weiß am besten, was auf der nächsten Seite kommt? Welcher Bagger wird auf der nächsten Seite gezeigt? Welche Farbe hat der nächste Bagger? Wieviel Zähne hat die Schaufel des einen oder anderen Baggers? Gemeinsames Wetteifern um eine Sache verbindet!
- Öffne ab und zu auch mal deinen Bücherschrank: Schau mit deinem Kind ein Sachbuch an, das deinen Interessen entspricht - egal, ob es ein Buch über Gartenkräuter oder ein Bildband über ägyptische Pyramiden oder ein Technik-Buch ist - zeige deinem Kind, wovon du begeistert bist - und warum.
Was hast du selbst vom Vorlesen mit Empathie?
Nicht nur dein Kind, sondern auch du entwickelst dabei eine gehörige Portion emotionale Intelligenz.
- Du erfährst, was mit deinem Kind gerade los ist. Du weißt, wie es deinem Kind geht, du begleitest dein Kind es in seiner emotional-sozialen und sprachlichen Entwicklung, bist Zeugin seiner Fortschritte und Interessen.
- In der Vorlesezeit gibst du deinem Kind NEST-WÄRME sorgst für seine tiefen „Wurzeln“ in der Familie und die Geschichten verleihen deinem Kind „Flügel“.
- All das gibt dir ein sicheres Gefühl - du fühlst dich sicher an dein Kind rück-gebunden.
Und wenn du heute nur einmal das Gefühl hast, deinem Kind nahe zu sein, gehst du morgen gestärkt in deinen Beruf. Eine starke Mutter-Kind-Beziehung bringt dich in eine gute Work Child Balance.
Das alles gilt natürlich gleichermaßen auch für „Working-Dads“ und „Vollzeit-Väter“.Viel Spaß beim Vorlesen und Gefühle.Lesen.Lernen!
Herzlichst
Dr. Lisa Lax
PS: Beim Schreiben von „empathischem“ Vorlesen war mein Autokorrektur-Programm immer wieder verwirrt - wollte unbedingt emphatisch statt empathisch „aufs Papier“ bringen. Natürlich schadet es nicht, mit Leidenschaft und Nachdruck vorzulesen (emphatisch), wenn du es magst, Stimmen zu imitieren, in der angemessenen Tonlage zu sprechen…. aber du brauchst absolut keinerlei schauspielerischen Talente. Deinem Kind genügt allein deine authentische Vorlese-Stimme, dein Dasein und Dabeisein, dein Interesse für seine Gefühle und Gedanken. Meine Oma war eine grottenschlechte Vorleserin, aber ich liebte es, wenn sie mir Grimms Märchen runterbetete wie ihren Rosenkranz.:)
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