Den Umgang mit Hilfe lernen - Ein Softskill für die Eltern-Kind-Beziehung
Die Art und Weise, wie wir als Eltern schon mit dem ersten „Nein ich allein!“ unseres Kindes umgehen, beeinflusst seine Entwicklung zur Selbständigkeit. Kann ich dir helfen? - Kannst du mir helfen? - Welche Frage fällt dir leichter? Wie schwer fällt es dir Hilfe anzunehmen? Wie steht es um deine Hilfsbereitschaft für andere? Und was hat das mit meiner Rolle als Mutter oder Vater zu tun? Auch die Einstellung, die wir zum Hilfe-Geben und Hilfe-Nehmen im Laufe unseres Lebens erworben haben, beeinflusst unsere Erziehungshaltung. Diese spiegelt sich in der Intensität unserer Hilfsangebote, die wir unseren Kindern im Alltag unterbreiten - vom "Das kannst du noch nicht!" bis zum "Das schaffst du doch allein!"
Deshalb lohnt es sich, hier kurz inne zu halten und die Fragen für dich zu beantworten: Fällt es dir es dir leicht, um Hilfe zu bitten? Wie lange dauert es, bis du dir Hilfe holst, wenn du allein nicht weiter kommst? Oder erwartest du von anderen, dass sie sehen, wie es um dich steht und dann fragen: "Kann ich dir helfen?" anstatt zu fragen "Kannst du mir helfen?"
In diesen Tagen gehen Bilder vom ukrainischen Präsidenten um die Welt, der nicht müde wird, die Staatengemeinschaft um Hilfe zu bitten oder sie mit Vehemenz einzufordern. Stark und selbstbewusst tritt er für sein Volk ein, für all die Menschen in seinem Land, die gerade Opfer eines Überfalls sind.
Die Szenarien mit den hilfsbedürftigen Müttern und Kindern im Krieg lassen mich meine Gedanken weiterspinnen und unsere Haltung zum Helfen als Eltern weiter hinterfragen: Verbinden wir Hilfe holen nur mit äußersten Notsituationen - wenn es um Leben Tod geht - oder können wir Situationen so einschätzen, dass wir uns frühzeitig Hilfe erbitten - und nicht erst dann, wenn das Kind buchstäblich schon in den Brunnen gefallen ist?
Setzen wir „Hilfe in Anspruch nehmen“ grundsätzlich mit Schwäche und Versagen gleich - fühlen wir uns in der Opferrolle, in der wir uns nicht zeigen wollen?
Steht dann vor jeder Bitte um Hilfe zuerst die Überwindung von Scham. Oder verbietet es dir dein Stolz, dein Ehrgeiz und Leistungsansprüche von außen, Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Was hindert uns daran, um Hilfe zu bitten?
Haben wir um Hilfe bitten er-lernt oder ver-lernt?
Der Mensch ist eine natürliche Frühgeburt. Als Neugeborene sind wir auf Hilfe anderer angewiesen. Wir haben anfangs nur unser Stimmorgan, mit dem wir die Hilfe und Fürsorge mehr oder weniger eindringlich einfordern können - ganz intuitiv und selbstverständlich.
Auch ein Baby nimmt deine Hilfe beim Essen, beim Anziehen, beim Waschen, beim Spielen noch ganz „nativ“ in Anspruch, denn es fühlt sich eins mit der Bezugsperson, teilt ihren Kosmos.
Aber je selbständiger dein Kind wird, um so kritischer reagiert es auf deine Hilfe: „Nein - ich allein!“ Ein Dreiwortsatz, der eindeutig deine Hilfe ablehnt. In der frühen Phase des selbständigen Handelns überwiegt das Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Ein zu großes Hilfsangebot kann dann zur scheinbaren Bedrohung werden für die Haltung, es alleine zu schaffen.
Das erklärt so manchen Wutanfall - auch später in der Pubertät, der zweiten großen Phase, Hilfe von den Eltern zu verweigern.
Ich denke, ganz wichtig ist die Art und Weise, wie wir Eltern schon mit dem ersten „Nein ich allein!“ umgehen. Ja, dein Kind lehnt in diesem Moment deine Hilfe ab — Wichtig zu wissen: Es lehnt aber nicht dich als Person ab und es lehnt auch nicht automatisch deine Anwesenheit ab. „Ich kann das allein!“ bedeutet keineswegs, das Kind in der Situation allein zu lassen, sondern präsent zu bleiben. Das erste "Ich allein" - meint es nicht einfach nur : "Schau her, was ich kann."
Wir wünschen uns als Eltern, dass unsere Kinder schnell selbständig werden, aber Sätze wie „Papa, Mama - wo wart ihr, als ich euch gebraucht habe!“ erschüttern unsere elterliche Erziehungskompetenz noch im Nachhinein. „Warum hast du uns denn nicht um Hilfe gebeten?“ ist dann oft die hilflose Antwort der Eltern.
Was ist dann schief gelaufen beim Lernen von Hilfe-Geben und Hilfe-Nehmen?
„Das kannst du noch nicht!“ oder „Das schaffst du doch allein!" beide Sätze haben ihre Tücken.
Im Laufe seines Lebens hört das Kind immer wieder diese Sätze.
Welche Einstellung zur Hilfe vermitteln wir unseren Kindern durch eine Erziehungshaltung, die sich in diesen Sätzen spiegelt?
Bedeutet selbständig sein, alles allein und um jeden Preis zu schaffen - oder bedeutet es: Ich weiß, wo, wann und wie ich mir Hilfe hole, wenn ich sie brauche.
Erfährt sich ein Kind eher in einer passiven Rolle als unselbständig hilflos und hilfsbedürftig, weil wir ständig alles für es regeln - auf Kosten seiner Selbständigkeit. Oder kann es sich in einer pro-aktiven Rolle erleben: es kann selbst den Hilfe-Bedarf ermitteln, um Probleme selbständig lösen zu können.
Den Umgang mit Hilfe lernen - wie geht das?
Wie können wir als Eltern die pro-aktive Rolle zur Entwicklung der Selbständigkeit unterstützen anstatt unseren Kindern das Konzept der erlernten Hilflosigkeit mitgeben? Es fängt bei den kleinen Dingen des Alltags an.
Dazu ein Beispiel: Schuhe zubinden lernen
Alleine lassen oder “Helikoptern”: Bequem, aber auf Dauer gefährlich
Gibst du deinem Kind ständig vor: „Das schaffst du schon allein!“ - und lässt es grundsätzlich alleine wurschteln? „Es muss ja selbständig werden - ich misch mich da nicht ein!“ Wenn ein Kind keinerlei Anleitung erfährt und immer denselben Fehler macht, lernt es nichts dazu. Es wird im Laufe seines Lebens nur schlecht Hilfe annehmen können, weil es nur sich selbst vertraut.
Oder gehörst du zu den Helikopter-Eltern (böse Zungen sprechen sogar von „Rasenmäher-Eltern“): Damit dein Kind dann doch nicht ständig mit offenen Schnürsenkeln herumläuft und stolpert, kaufst du Schuhe mit Klettverschluss oder Reißverschluss…:)
Mögliche Hürden und Probleme räumst du für dein Kind stets vorausschauend aus dem Weg, so dass es auf keine Probleme stößt und keinen Anlass sieht, um Hilfe zu bitten. Damit schaffst du für dein Kind eine gewisse „Schein-Selbständigkeit“ In ernsthaften Notsituationen fühlt es sich dann entweder extrem hilflos, da es bisher noch keine Hilfsstrategien zur Problemlösung erlernen konnte. Oder diese Erziehung im Schonraum führt bei deinem Kind zu einer Selbst-Überschätzung, die es in Gefahr bringt, weil es nicht gelernt hat, Situationen realistisch einzuschätzen.
Oder: Nimmst du dir die Zeit und begleitest dein Kind bei seinen wichtigen Problemlöseprozessen? Bist du als „Zeuge“ und/oder „Helfer“ quasi im Stand by Modus gerne dabei?
Helfen im Standby Modus: Die aufwändigere, aber sichere Lösung
Hier sind die wichtigsten Schritte dazu:
- Du schaust erst einmal zu, welche Lösungsansätze dein Kind hat, um sich die Schuhe zuzubinden.
- Du greifst nur nach Rücksprache (Kann ich dir helfen?) unterstützend ein, akzeptierst geduldig ein NEIN und beobachtest unaufgeregt weiter.
- Du achtest genau darauf, wo dein Kind mit seinem „Versuch und Irrtum“- Lernen auf der Stelle tritt (hier ist der Punkt, wo es vielleicht wütend wird, weil es auf seine Grenzen stößt).
- Jetzt ist der Zeitpunkt nur einen kleinen Tipp anzubieten. „Klappt es nicht? Schau mal, ich binde mir die Schuhe immer so zu, dann geht es besser.“
- Du leitest es kurz an und lässt es dann wieder allein probieren.
- Es erfährt deine Hilfe ohne dass seine Selbständigkeit bedroht sieht.
- Dein Angebot steht: „Wenn es noch nicht klappt, helfe ich dir gerne.“
- Wenn es dann klappt, schaust du seinen Wiederholungs-Übungen noch eine Weile zu, unterstützt, optimierst - bis es wirklich sitzt.
- Zum Schluss bestätigst du deinem Kind: „Ja, jetzt hast du es gelernt - du kannst jetzt allein die Schuhe zubinden. Super!“
- Eine kleine „Erfolgs-Kontrolle“ am nächsten Tag sichert das Lern-Ergebnis: „Schau, du kannst es heute auch wieder.“
Schuhe binden ist nur eine von vielen kleinen lebenspraktischen Fertigkeiten, die dein Kind durch deine teilnehmende Beobachtung und in der gemeinsamen Beschäftigung mit dir gelernt hat.
Der Umgang mit Hilfe: ein Softskill fürs Leben
Aber etwas ganz Wichtiges passiert während solcher Begleitprozesse ganz beiläufig. Dein Kind hat nicht nur Schuhe zubinden gelernt, sondern auch:
- Wer um Hilfe bittet, lernt dazu, wer es nicht tut, macht immer wieder die gleichen Fehler.
- Wie fühlt es sich an, Hilfe anzunehmen? - Wie fühlt es sich an, Hilfe nicht zuzulassen?
- Ist es ein gutes oder ein schlechtes Gefühl, konkrete Anleitung zu bekommen und dadurch etwas zu können, was ich vorher noch nicht konnte.
- Was möchte ich auf alle Fälle schon alleine machen, wobei darf mir Papa/Mama helfen?
- Ich bestimme den Zeitpunkt, wann ich Hilfe brauche.
- Wie geduldig oder ungeduldig ist mein „Lehrer“- bin ich?
Und das Beste kommt zum Schluss: Hier geht es nicht nur um Schuhe zubinden - sondern gerade diese Standby-Hilfen sorgen für eine starke Bindung zwischen dir und deinem Kind!
Warum ist es so wichtig, Hilfe mit dem Kind „abzusprechen“?
Es ist wichtig, dass wir unseren Kinder unsere Hilfsangebote nicht einfach überstülpen. Lassen wir sie in kleinen Alltagssituationen immer wieder neu herausfinden, wann und wie sie Hilfe einfordern können - ohne dass ihr Selbstwertgefühl darunter leidet.
Nur das macht sie stark, denn sie lernen dabei, ihre eigenen Kräfte, ihre Ressourcen und Fähigkeiten und ihr Problemlöse-Bewußtsein sehr aufmerksam und achtsam einzuschätzen. Die Selbsteinschätzung ist ein wichtiges Softskill quer durch alle Entwicklungsbereiche - sei es für die motorische, die kognitive oder die emotionale Intelligenz.
Aus der Resilienzforschung wissen wir, wie wichtig die Selbsteinschätzung der eigenen Kräfte in Krisensituationen ist - ob wir uns in Hilflosigkeit ergeben oder selbst wirksam werden.
Und was für eine wichtige Rolle spielt dabei die Fähigkeit, Hilfe zu organisieren, um Probleme zu lösen!
Und was hast du davon?
Auch du lernst in der Beschäftigung mit deinem Kind, deine Hilfs-Angebote immer wieder am konkreten Hilfe-Bedarf neu zu justieren. Was macht es mit dir, wenn dein Kind wütend deine Hilfe ablehnt - sei es im Trotzalter oder in der Pubertät. Wie fühlt es sich an, wenn dein Kind dich um Hilfe bittet? Du sorgst für eine gute Bindung zwischen dir und deinem Kind. Du wächst mit deinen Erziehungsaufgaben; denn letztlich geht es dabei immer um Festhalten und Loslassen.
Zum Schluss meine Frage: Kann ich dir helfen?
sei es mit diesem Artikel oder hättest du gern mehr pädagogische Hilfe, z.B. konkrete Anleitung wie du kritische Erziehungs-Situationen besser handhaben kannst? Dann scheue dich nicht, rechtzeitig nach Hilfe zu fragen, bevor „das Kind in den Brunnen gefallen ist“.
Ich bin für dich und deine Herausforderungen im Erziehungsalltag da. Melde dich gern zu einem 1:1Gespräch an. Diese Erziehungsberatung kostet dich nichts, nur ein gute halbe Stunde Zeit.
Hier geht es zum 1:1 Gespräch.
Herzliche Grüße
Dr. Lisa Lax