Vorlesen verzaubert
Engelchen saß im Schnee und weinte. Es hatte sich verirrt.… Was geschieht, wenn Engel weinen? Weihnachtszeit ist beste Familien-Zeit! Zeit zum Einkuscheln und Vorlesen. Wie aus Zauberhand verwandeln sich dabei die seltsamen Zeichen im Buch zu gesprochenen Lauten, Silben, Wörtern. Es formieren sich ganze Sätze und erreichen die Ohren der Zuhörer:innen, lassen ganz eigene Bilder im Kopf entstehen. Und bei diesem wunderbaren Ausflug in die Welt der Sprache und Fantasie kannst du dich als Vorleser:in ganz fest in der Realität mit deinem Kind verbunden fühlen. Denn Vorlesen verzaubert: es geht nicht nur Buchstaben lesen, sondern um viel mehr: um Gefühle.Lesen.Lernen. Wie du speziell diese Geschichte am besten mit Empathie vorlesen kannst, erfährst du im pädagogischen Leitfaden, den ich an den Vorlesetext angehängt habe.
Engelchens Tränen
Engelchen saß im Schnee und weinte. Es hatte sich verirrt.
Vor einiger Zeit hatte es sein watteweiches Wolkenbett verlassen, war mit vorsichtigen Flügelschlägen ausgeflogen.
Zusammen mit den ersten flaumigen Schneeflocken tänzelte es voller Leichtigkeit vom Himmel herab.
Es ließ sich auf den Zweigen eines Strauches nieder, der seine Blätter schon abgeworfen hatte, aber noch rot schimmernde Früchte trug.
Engelchen tat einen tiefen Atemzug und erahnte den wunderbaren Duft der Sommerrosen, den die einst feurig roten Hagebutten unter ihrem kristallweißen Raureifpelz verschlossen hielten.
„Wie bunt duftend musste der Sommer auf der Erde gewesen sein!“, dachte Engelchen, breitete seine Flügel aus, um weiter zu fliegen. Inzwischen schneite es kräftiger.
Plötzlich wurde Engelchen von einer starken Windböe überrascht und mitten in einen Schneeflocken-Strudel geschleudert.
Dicht zusammengedrängt, fest aneinander gepresst - fielen jetzt Unmengen von Schneeflocken aus allen Wolken - so als hätten sie es sehr eilig, die ganze Erde in einem weißen Mantel einzuhüllen.
Dazu gesellte sich ein starker Wind, dem es gefiel, die Schneeflocken abwechselnd eine Weile lang in einer Richtung vor sich her zu treiben, um sie dann mit kurzen heftigen Pustern wild durcheinander zu wirbeln.
Dann hielt der Wind endlich mal die Luft an:
Schneeflocken samt Engelchen taumelten wie betrunken zur Erde hinab.
Engelchen war völlig durch den Wind … durchgedreht … fühlte sich verwirrt… Es fand sich - erschöpft auf einer dicken Schneeflockendecke sitzend - wieder.
Was wollte es denn überhaupt auf der Erde?
Engelchen spürte, wie ihm ganz eng um sein Herz wurde.
Da begann es bitterlich zu weinen.
Dicke salzige Engel-Krokodilstränen kullerten über seine Wangen hinab, fielen wie glasklare Perlen lautlos in den Schnee und ließen ihn schmelzen.
Kleine dunkle Erdflecken wurden sichtbar, in denen die Tränen zusammen mit den Schneekristallen versickerten.
Engelchens Tränen wollten nur langsam versiegen, hinter dem Tränenschleier aber konnte es etwas Wundersames beobachten:
Eine besonders dicke, goldschimmernde Tränenperle hatte die Schneedecke durchdrungen ohne sich aufzulösen.
Da lag sie nun wie in Zuckerwatte gebettet - von hauchzarten Schneekristallen umgeben.
Nach einer Weile bewegte sich die Goldträne und wurde langsam wie von Zauberhand nach oben gedrückt.
Ein kleines winzig grünes Pflanzenköpfchen war - wie von einem Turban - in die goldene Engels-Träne eingehüllt.
Behutsam schob sich das Köpfchen durch den Schnee ans Licht.
Der Winzling wuchs und wuchs, ein kleiner kräftiger Stängel zeigte eine Knospe.
„Hatschi!“
Die Blume nieste und steckte ihr Köpfchen tief ins dunkle Grün ihrer Blätter zurück.
„Ja wer bist du denn?“ - fragte Engelchen und wischte sich die letzte Träne aus dem Gesicht.
„Ich bin Hellebora.-
Und schau, überall dort, wo deine Tränen die Schneekristalle berühren und den Boden benetzen, werden meine Kinder wachsen und gefeit sein gegen den Frost des Winters!
In der Dunkelheit werden ihre Blüten leuchten wie Sterne am Himmel.“
Da spürte Engelchen einen leisen Windhauch unter seinen Flügeln.
Mit sanften Flügelschlägen stieg es empor in die Lüfte.
Leicht wie eine Feder schwebte es dem klaren Sternenhimmel entgegen - voller Zuversicht, dass es den Weg in sein wolkenweiches Bettchen finden würde.
Und auf der Erde - öffnet Hellebora langsam - sachte - leise ihre Knospe, entfaltet ihre Blüte.
Wie eine Sonne im Winter - weiß-gold glänzend - erstrahlt sie nun zur Weihnachtszeit -
kündet von neuem Leben, Licht und Hoffnung -
die Christrose.
©Lisa Lax
Kleiner pädagogischer Leitfaden zum Vorlesen
Lies dir den Text erst einmal für dich alleine durch. Stimme dich ein.
Bereite deine Kinder auf das Vorlesen vor.
Gestalte die Situation als Zeremonie.Beim Vorlesen schaffst du Nähe: körperlich, gedanklich und emotional.
- Sucht euch einen kuscheligen Platz und taucht gemeinsam in die Geschichte ein.
- Stelle den Titel der Geschichte vor.
- Lies langsam und deutlich.
- Benutze deine Stimme auch zu Lautmalereien
- Wechsele die Tonart – fröhlich, traurig, dramatisch..
Achte genau auf eure Gefühlslage beim Vorlesen:
- Lässt du dir während des Vorlesens Zeit für kleine Zwischen-Gespräche mit deinem Kind?
- Oder wirkt das eher störend für dich?
- Achtest du darauf, welche Gefühle von den Figuren der Geschichte durchlebt werden?
- Oder folgst du mehr dem sachlichen Inhalt?
- Nimmst du wahr, welche Gefühle bei dir und bei deinem Kind dadurch angesprochen werden?
Spezielle Tipps zum Vorlesen von „Engelchens Tränen“
Erkläre deinen Kindern, dass es keine Action-Geschichte ist – sondern eine ruhige
Phantasie- Reise. Die Geschichte ist wie ein Spaziergang in der Natur, bei dem wir schauen,
was in der Natur und in uns selbst passiert.
Älteren Kindern liest du die Geschichte am besten erst einmal im Ganzen vor.
Fang die Stimmung unmittelbar nach dem Vorlesen ein.
Mögliche Fragen im Anschluss:
- Wie geht es dir jetzt?
- Was macht die Geschichte mit dir?
- Wie wirkt die Sprache auf dich?
Nimm wahr, welche Gefühle bei dir und deinen Kindern angesprochen werden.
Sammle unmittelbare Gedanken und Gefühle ein.
Dann erst Abschnitte wiederholt lesen und konkretere Fragen stellen:
- Fühlst du dich auch manchmal so durcheinander gewirbelt wie Schneeflocken im
- Schneesturm?
- Warum weint Engelchen, warum ist es so traurig? Kennst du das Gefühl von Engelchen
- auch an dir?
- Was tust du, wenn es dir schlecht geht?
- Wer oder was tröstet Engelchen?
Für kleinere Kinder (unter 6 Jahren) empfehle ich, den Text im ersten Durchgang abschnittweise zu lesen.
Beginne mit konkreten Fragen und komm mit deinen Kindern ins Gespräch über den
jeweiligen Textabschnitt:
- Was meinst du, wo ist Engelchen gelandet?
- Was glaubst du, gefällt es Engelchen auf der Erde. Fühlt es sich wohl?
- Was würde dir gefallen: Würdest du auch gerne so leicht wie eine Feder durch die Luft schweben oder lieber heftig durch gewirbelt werden – wie die Schneeflocken im Sturm?
- Wie geht es Engelchen nach dem Sturm?
- Was meinst du, warum weint Engelchen?
- Kennst du das auch: du fühlst dich allein gelassen? Hast du dich auch schon einmal verlaufen?
- Was denkst du: werden noch viele Blumen wachsen und im Winter leuchten?
©Lisa Lax
_____________________________________________________________________________________
Manchmal braucht es nur einen sanften Flügelschlag,
um die Wunder des Lebens zu erkennen.
Ich wünsche euch zauberhafte Momente für die Weihnachtszeit,
startet voller Hoffnung und mit Wind unter den Flügeln ins Neue Jahr!
Herzlichst
Dr. Lisa Lax
Weitere Weihnachts-Geschichten findest du hier: Vorlesegeschichte zum Dreikönigstag