Wie du deinem Kind hilfst, Gefühle zu steuern, statt sie zu unterdrücken.
„Heul doch nicht, du willst doch deine Rede halten“ - höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich atme tief durch und beginne zu sprechen, leise, meine Stimme zittert. „Heul doch nicht hier und jetzt“ - es ist, als schaute mir meine Mutter über die Schulter: „Du willst jetzt nicht weinen, sondern deine Rede halten.“ Ich spreche weiter und meine Stimme wird immer fester. Ich halte meine Rede. Ich tue es für mich, für meine beiden Schwestern und für meine Mutter. Und ich bin so froh, dass ich es geschafft habe.
Tief innen bin ich sehr traurig, ja. Die Trauer drückt auf die Tränendüse. „Hinter meinen Augen stehen Wasser, die möchte ich alle weinen!“ - eine Gedichtzeile von Ingeborg Bachmann verbindet sich mit meinem Gefühl.
Wie also gehe ich mit dem Gefühl der Trauer in mir um - in dieser Situation am Rednerpult und dem Satz meiner Mutter: Weine nicht!
Will sie mir etwa mein Gefühl ausreden?
“Weine nicht!” - Das könnte mich jetzt wütend machen. Tut es aber zu meinem eigenen Erstaunen nicht. Nein, im Gegenteil: es erinnert mich daran, was jetzt in dieser Situation, in diesem Augenblick mein Ziel ist. „Du willst deine Rede halten - also halte deine Tränen unter Kontrolle - nur für diesen Moment!“
Sie sagt nicht: „Du musst jetzt stark sein!“ - Auch so ein Satz der vielleicht auch bei dir ganz schnell „Allergien“ auslöst. Immer muss ich stark sein, keine Schwäche zeigen. Darum geht es jetzt in dieser Situation eben nicht. Ich muss nicht stark sein - ich will stark sein; denn ich habe ein Ziel, eine selbst gewählte Aufgabe. Ein starker Gefühlsausbruch würde meinen Plan vereiteln. Dann wäre ich doppelt traurig.
Gefühle sortieren - ein wichtiger Schritt
In meiner Situation am Rednerpult treten mindestens drei unterschiedliche Gefühle gleichzeitig auf.
- meine Freude daran, Menschen mit meinen Worten in schwierigen Situationen zu unterstützen,
- mein Mut zur Rede und
- meine tiefe Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen.
Ich habe meine Traurigkeit nicht verdrängt, sondern in diesem Augenblick umgelenkt. Ich habe sie umgewandelt in Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich meinem Trauergefühl nicht ganz hilflos ausgeliefert bin, sondern dass ich es handhaben kann.
Ich weine nicht, weil ich nicht weinen will, nicht jetzt - nicht hier.: Es ist mir gelungen, diese Gefühlsvielfalt zu managen: Meine anfangs zittrige Stimme wird stärker und stärker und ich halte eine engagierte Trauerrede - am Grab meiner Mutter. Sie wäre stolz auf mich!
Was braucht ein Kind, damit es lernt, seine Emotionen zu steuern?
Mit der Brille der professionellen Pädagogin schaue ich heute auf die Erziehungsqualitäten meiner Mutter - und frage mich: Was hat meine Mutter mir als Kind mitgegeben?
„Stell dich nicht so an, da musst du durch!“ - das habe ich nicht von ihr gehört sondern eher: „Ja, da musst du jetzt durch“. Und sie hat mich weinen lassen,
- als meine Puppe mal ein Auge verloren hat.
- als ich mich in den Finger geschnitten habe und die Wunde brannte.
- als ich in Mathe meine erste Fünf geschrieben habe
- als meine Schwester mir meine Schokolade „weggefressen“ hatte
- als mein Vater starb.
Sie hat intuitiv begriffen, dass alle Tränen salzig sind - obwohl sie als Kind gelehrt wurde, keine Tränen zu vergießen.
Heul nicht, du willst doch deine Rede halten - sagt meine Mutter. Emotionsmanagement - sagt die Wissenschaft: Die eigenen Emotionen der Situation angemessen steuern, statt sie zu unterdrücken. Das können wir von klein auf lernen.
Die Wissenschaft geht davon aus: Kinder lernen, ihre eigenen Emotionen der Situation angemessen zu steuern, wenn Eltern ihrer eigenen Intuition und dem Mit-Gefühl mit ihrem Kind folgen. Damit sorgen sie für die Herzensbildung der nächsten Generation. Das klingt vielleicht etwas altmodisch für dich, aber die Entwicklungspsychologie nennt genau dies emotionale Intelligenz. Gefühle verstehen lernen - ist die Verknüpfung von emotionalen und kognitiven Fähigkeiten - von Herz und Verstand.
Was nutzt ein hoher IQ, wenn wir emotionale Trottel heranziehen?
nach Daniel Goleman
Wenn wir nicht lernen, mit unseren Kinder und mit uns selbst mit-zu-fühlen, wird unsere Gesellschaft zunehmend verrohen. Entweder ziehen wir total „verkopfte“ Menschen heran, die ihre Gefühle grundsätzlich wegdrücken. Oder eben auch solche, die immer und überall ihren Gefühlen absolut freien Lauf lassen. Mangelnder Impulskontrolle kann dazu führen, dass man seinen Mitmenschen Schaden zufügt. Deshalb brauchen wir die Fähigkeit, unsere Emotionen zu steuern.
Vier Schritte zum Management der Emotionen - Wie du dein Kind dabei unterstützen kannst
Die Emotionen zu steuern, mit Gefühlen umgehen, sie handhaben können, das ist erst der letzte Schritt von vieren.
1. Gefühle wahrnehmen
Zu allererst heißt es, die eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen. Du kannst deinem Kind helfen, seine Gefühle wahrzunehmen: Intuitiv spiegelst du mit deinem Verhalten von Geburt an seine Mimik und seine Gestik - Du bestätigst deinem Kind, dass du etwas von ihm wahrnimmst:
- seine Freude, wenn es dich wiedersieht,
- seinen Frust, wenn du ihm etwas verbietest,
- seine Traurigkeit, weil Papa ausgezogen ist,
- seine Angst, wenn es allein im dunklen Zimmer nicht einschlafen kann.
(Für die heutige Eltern-Generation sehe ich die Gefahr, dass sie öfter auf Handy schaut als auf das Kind. Wie wichtig aber die teilnehmende Beobachtung von Eltern ist, um die Entwicklung der Gefühlswelt zu unterstützen - das sagt uns die Bindungsforschung.)
2. Gefühle benennen
Im zweiten Schritt helfen wir unserem Kind, seine Gefühle zu benennen. Ein Kind nimmt anfangs seine Gefühle über den Körper wahr. Wir geben dem seltsamen Zustand, den sein Körper zum Ausdruck bringt, einen Namen.
- Du freust dich!
- Du bist wütend
- Du hast Angst, allein zu sein
- Du bist traurig
Damit hilfst du deinem Kind, seine Gefühle nicht nur zu benennen, sondern sie kennenzulernen. Damit eröffnest du ihm die Möglichkeit, seine Gefühle zu sortieren.
3. Gefühle anerkennen
Der dritte Schritt ist schwieriger: die Anerkennung der Gefühlslage. Du nimmst beispielsweise den Kummer deines Kindes ernst. Das erfordert von dir als Erwachsenem echtes Mit-Gefühl. Mitfühlen mit der kindlichen Seele - auch wenn du als Erwachsener einen ganz anderen Maßstab anlegst, auf das, was für dich wirklich schlimm ist, was dir Angst macht, worüber du dich freust, was dich wütend macht, was dich traurig macht. Mitfühlen mit dem „Theater“, das dein Kind um ein verlorenes Sternchen macht - ja, das ist eine emotionale Herausforderung für uns Erwachsene. Hier müssen wir erst einmal unsere eigene Gefühlslage sortieren - um das momentane Gefühl unseres Kindes respektieren zu können.
Hier gilt: Gefühle nicht ausreden, sondern erst einmal anerkennen:
- Ja, du darfst weinen, wenn du traurig bist. statt Heul doch nicht wegen… so was!
- Ja, du darfst wütend sein, wenn dein bester Freund dir die Freundin ausspannt. statt: Hör auf so rum zu toben, das bringt doch nix.
- Ja, du hast Angst, allein zu sein. statt Stell dich nicht so an, es gibt keine Monster unterm Bett.
4. Gefühle angemessen handhaben
Jetzt erst kann der vierte Schritt gelingen: lernen, die Emotionen zu handhaben. Wie gehe ich mit dem Gefühl angemessen um?
- Was kannst du tun, wenn du dich traurig fühlst. Was brauchst du?
- Wie kannst du deine Wut ablassen, ohne andere zu treten, zu beißen, zu kratzen, zu spucken?
- Mit wem kannst du deine Freude, deinen Stolz auf dich gut teilen?
- Was kannst du tun, wenn du wieder Angst bekommst.
- Wie kannst du deine unterschiedlichen Gefühle in einer Situation sortieren und der Situation angemessen re-agieren?
Was kannst du deinem Kind mitgeben?
Du siehst, um dieses Emotionsmanagement zu erlernen, braucht dein Kind deine Begleitung und dein Vorbild. Mit deinem Dabeisein, mit deiner Anteilnahme hilfst du deinem Kind, die Situation zu bewerten. Du gibst der Situation Bedeutung, oder du tust sie als unwichtig ab - ein wichtiger Maßstab, der für dein Kind bei der Entscheidung zählt, wie es sich in dieser Situation angemessen verhalten kann - gefühlsmäßig.
Je älter deine Kinder werden, um so mehr bestärke sie darin, eigene Gefühls-Entscheidungen bewusst zu treffen:
- Du entscheidest, wie du in Situationen agierst, wie du re-agierst - wie weit du deinen Gefühlen freien Lauf lassen willst,
- Du entscheidest, wann du ansetzt, deine Gefühle zu sortieren, zu managen.
- Du entscheidest selbst, ob es sich lohnt, lange um den Freund zu weinen, der dich hat sitzen lassen.
- Du wägst selbst ab, wann es sich für dich richtig anfühlt, Tränen einfach fließen zu lassen.
„Ja, dann wein dich erst mal richtig aus! - Wenn du meinst, es geht noch nicht - dann hältst du deine Rede eben später - oder du fängst an und gibst das Wort ab, wenn es nicht mehr geht" - auch das würde meine Mutter sagen - hätte ich sie vorher um Rat gefragt.
In diesem Sinne - schau auch mal darauf, was deine Mutter oder dein Vater dir möglicherweise mitgegeben haben und was du davon heute an deine Kinder weitergeben willst - und was nicht.
Herzlichst und mit Gefühl
Dr. Lisa Lax