7. Februar 2021

Vom Festhalten und Loslassen

Das Abenteuer Erziehung

„Gib deinem Kind Wurzeln und Flügel!“, lese ich wieder einmal in einer Geburtsanzeige. Diese alte Weisheit - angeblich stammt sie von Goethe - beschreibt das Abenteuer „Erziehung“, auf das sich Eltern mit der Geburt ihres Kindes einlassen. Eigentlich ein paradoxes Ansinnen, stellt man sich das mal bildlich vor: Wurzeln & Flügel.  
Wurzeln halten fest, bieten eine feste Verankerung, stehen für Erdverbundenheit. Ein starkes Wurzelwerk sorgt für Bodenhaftung. Flügel dagegen suggerieren den freien Flug in luftigen Höhen, völlig losgelöst von der Erde.

Eine schwierige Erziehungs-Aufgabe, ein Dilemma, in dem nicht nur du als Working Mum steckst, sondern alle Eltern.  Aber ist es wirklich ein Dilemma? Genau betrachtet hat dieses Bild für mich sogar etwas Tröstliches.  Denn es beschreibt zwei wunderbare Ur-Sehnsüchte des Menschen: sich mit anderen verbunden zu fühlen und gleichzeitig frei zu sein. In der pädagogisch-psychologischen Forschung spricht man von den beiden Grundbedürfnissen des Menschen. Sie bilden - wie die zwei Seiten einer Medaille - ein Bedürfnis-Duo: Bindung und Autonomie zugleich.

Berufstätige Mütter im Abenteuer zwischen Festhalten und Loslassen

Als Mutter fragst du dich immer wieder: Wie lange soll ich mein Kind festhalten – wann kann ich es loslassen? Und besonders akut wird die Frage, wenn du dich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bemühst. Als berufstätiger Mutter kommen dir schon mal Zweifel, ob die Wurzeln wohl stark genug werden können, wenn du dein Kind schon früh in fremde Hände gibst.

Sicher hast du Situationen wie diese schon erlebt? Du willst dich morgens an der Kita-Tür von deinem Kind verabschieden, aber es klammert sich an dich. Dein Kind will dich nicht loslassen. Du fragst dich: Wie viel freien Flug kannst du deinem Kind schon zumuten? Am Nachmittag holst du dein Kind ab, und du hast das Gefühl, du kannst nicht richtig bei ihm “andocken“.  Du fragst dich: Hat es mich denn gar nicht mehr lieb? Ist das Wurzelwerk in der Familie nicht stark genug? Wie viel Job verträgt mein Kind?

All diese Gedanken und zweifelnden Fragen sind ein Zeichen dafür, dass du mittendrin steckst in dem „Abenteuer“ zwischen Festhalten und Loslassen.

Festhalten und Loslassen in den verschiedenen Lebensphasen

Kluge Pädagogen oder vermutlich Eltern von ewigen Nesthockern haben den Sinnspruch modifiziert und ein Erziehungs-Rezept daraus gestrickt: 

„Wenn Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“ 

Aber stimmt das so? Kann man Festhalten und Loslassen auf eine bestimmte Lebensphase begrenzen? 

Das greift meiner Meinung nach zu kurz: Das Bedürfnis nach Bindung und Autonomie ist dem Menschenkind schon in die Wiege gelegt. Und spätestens mit dem ersten Krabbeln, mit den ersten Schritten wachsen dem Kind kleine Flügel. Vom Schoß der Mutter herunter zu rutschen und im Wartezimmer des Arztes auf wackligen Beinchen auf Erkundungsreise zu gehen - das ist schon ein beflügelnder Akt Freiheit - und wie beglückend ist die Rückkehr zur sicheren Basis: Mamas Schoß! 18 Jahre später sind die Flügel enorm groß und stark: das Kind steigt voller Tatendrang und Neugier in den Flieger, um ein Au-Pair-Jahr am anderen Ende der Welt zu absolvieren… 

Wieviel Wind konnte dieses Kind von seinen Eltern im Laufe seines Lebens unter seinen Flügeln spüren - und wie stark und sicher ist das Wurzelwerk, wenn es immer wieder gerne nach all seinen Flügen in Freiheit in den Schoß der Familie zurückkehrt!

Das Bedürfnis von Bindung und Autonomie im Alltag

In unserem Erziehungs-Alltag mit unseren Kindern erleben wir von Anfang an ständig kleine Situationen von Abschied und Wiederkehr - und in genau diesen Situationen wird das Bedürfnis nach Bindung und Autonomie für uns spürbar - im Abschieds-Schmerz und in der Wiedersehens-Freude.

Dein Kind balanciert beide Bedürfnisse jeden Tag immer wieder aufs Neue aus. In jeder Trennungssituation wird sein Bedürfnis nach Bindung sichtbar: sein Bindungsverhalten wird aktiviert: Es reckt die Händchen nach der Bezugsperson. Fühlt es sich dagegen sicher und geborgen, wird eher sein Bedürfnis, autonom zu handeln aktiviert. Es lässt deine Hand los und geht neugierig auf Entdeckertour, um die Welt zu erkunden. 

In der Bindung-Forschung wird dies mit dem Bild einer Wippe verdeutlicht: Bindungs- und Explorationsverhalten bedingen sich gegenseitig. Wiegt die Bindung schwer - das heißt, hat die sichere Bindung ein starkes Gewicht - geht das Explorationsverhalten nach oben. Ist die Bindung schwach, hat sie wenig Gewicht, dann geht das Erkundungsverhalten stark nach unten. Um aber hier im Bild mit den Wurzeln und Flügeln zu bleiben: 

Wenn das Kind sich nicht verwurzelt fühlt, also eher unsicher gebunden ist, begibt es sich nicht gern auf einen Erkundungsflug - sprich: Es fällt ihm schwerer, Neues zu lernen. Umgekehrt: Je besser sich ein Kind in der Familie verwurzelt fühlt, umso leichter ist es, seine Neugier auf Fremdes zu wecken.

Gemeinsam dem Kind Wurzeln und Flügel geben

Wusstest du eigentlich, dass die Bindung zwischen Vätern und Kindern mehr über das gemeinsame Tun und Spielen entsteht? Zwischen Mutter und Kind wird das emotionale Band durch die feinfühlige Kommunikation in Fürsorge- und Pflegesituationen geknüpft. Mütter sprechen häufiger mit ihren Kindern über Gefühle und stärken damit das Bindungsverhalten des Kindes. Väter dagegen stärken durch feinfühliges Spielen mit dem Kind mehr die Kehrseite der Medaille - nämlich das Explorationsverhalten des Kindes, d. h. das Bedürfnis des Kindes die Welt für sich zu entdecken. 

Also spricht alles dafür, dass Vater und Mutter "Hand in Hand arbeiten": Damit einerseits die Familienbande und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden  - andererseits aber auch die Selbständigkeit der Kinder gefördert wird, eigene Wege zu gehen.

Besonders wichtig wird deine Bereitschaft, dein Kind loszulassen, wenn der Wechsel vom Familienschoß in Krippe, Kita oder Schule ansteht. Dann erlebst du mit deinem Kind Abschiedssituationen, die jeden Tag aufs Neue gemeistert werden wollen – von dir und von deinem Kind.  

Deine eigenen Wurzeln und Flügel

Und auch Du spürst die beiden Seiten der Medaille als Working-Mum ganz besonders am eigenen Leibe: Du fühlst dich eng mit deinem Kind verbunden, willst aber auch frei sein, um deinen Weg im Beruf weiter zu verfolgen. Also heißt es für dich, dein Kind jeden Tag aufs Neue loszulassen und vertrauensvoll in Fremdbetreuung zu geben. Vertraue dabei auf dich und deine Bedürfnisse!

Wenn du dich zu Hause in deinem Familien-Nest sicher verwurzelt fühlst, hast du mehr Mut, auszufliegen. Wenn du dich gut mit deinem Kind verbunden fühlst - fällt es dir leichter, es loszulassen, es anderen Menschen anzuvertrauen, um deine beruflichen Ziele zu verfolgen.

Was ich dir wünsche:
Ich wünsche auch dir als Working Mum starke Wurzeln und Flügel! Dann wird dein Alltag nicht zum anstrengenden Spagat, sondern zum lockeren Balance-Akt. 

Herzlichst
mit Wind unter den Flügeln
für deine Work-Child-Balance 
Dr. Lisa Lax

Balancierendes Küken

P.S.:  Im nächsten Blog Artikel findest du drei wichtige Impulse, wie du die Trennungssituation in Krippe, Kita oder Schule nutzen kannst, um die Bindung zu deinem Kind zu stärken. Klingt erstmal paradox? Ist es nicht - Schau einfach mal rein. Hier geht's zum Artikel.

© 2020 Dr. Lisa Lax